„Markiert sein oder markiert werden?“ Unter diesem Titel fand am 16. Mai 2017 ein Gespräch im Museum für Moderne Kunst Frankfurt statt. Thema waren Bilder der Schweizer Fotografin Claudia Andujar: Porträtfotografien von brasilianischen Yanomami.
Es sprachen Bernd Stiegler (Uni Konstanz) und Christoph Menke (Goethe-Uni), moderiert von Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt.
Die Schweizer Fotografin Claudia Andujar entkam 1944 dem Holocaust und emigrierte nach Brasilien. Dort engagiert sie sich seit den 1970er-Jahren für die Rechte der Yanomami im Amazonasgebiet. Im Rahmen einer Impfkampagne in den 1980er Jahren entstanden die mit Nummern versehenen Porträtfotografien der Yanomami. Die so faszinierenden wie verstörenden Bilder nehmen eine Markierung vor, die das Überleben der bedrohten Yanomami sicherstellen sollte.
Anlässlich der Ausstellung „Claudia Andujar: Morgen darf nicht gestern sein“ unterhalten sich der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler und der Philosoph Christoph Menke über die Funktion dieser Bilder und die Tradition der ethnografischen Fotografie, moderiert von Mirjam Wenzel.
Eine Kooperation mit dem MMK Museum für Moderne Kunst und dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt.
Titelbild: Fotografie von Claudia Andujar aus der Series „Marcados“, 1981 – 1983 © Claudia Andujar and Galeria Vermelho, São Paulo, Brazil
Über die Ausstellung
Die Ausstellung „Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein“ gibt mit Werken von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart erstmals in Europa einen umfangreichen Einblick in das fotografische Œuvre von Claudia Andujar (* 1931 in Neuchâtel, Schweiz).
Die Künstlerin lebt seit 1955 in São Paulo. Zunächst ohne Kenntnisse der portugiesischen Sprache bot ihr die Fotokamera eine Möglichkeit, durch Bilder zu kommunizieren. Seither ist Andujars fotografische Praxis eng mit der jüngeren Zeitgeschichte Brasiliens sowie den Gegensätzen und Konflikten des Landes verknüpft.
Andujars Bildserien sind das Ergebnis ihrer Reisen zwischen der südlichen Metropole São Paulo und dem nördlich gelegenen Amazonasgebiet. Sie schaffen ein Panorama Brasiliens, das sich zwischen Stadt und Natur bewegt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden Proteste in Brasilien und der kürzlich verkündeten Klimaziele des Landes zeichnet sich Andujars Werk bis heute durch eine hohe Aktualität und Brisanz aus.
Seit Beginn der 1970er-Jahre engagiert sich die Fotografin für die Yanomami, die größte indigene Volksgruppe im Amazonasgebiet, deren Existenz von der durch wirtschaftliche Interessen getriebenen Invasion ihres Lebensraums bedroht ist. In zahlreichen Bildserien hat die Fotografin das Zusammenleben der Yanomami über mehrere Jahrzehnte fotografisch festgehalten. Ihre bis heute wichtigste Serie ist „Marcados“ (dt. Markiert). Künstlerische Praxis und aktivistisches Engagement sind in diesen Aufnahmen untrennbar miteinander verknüpft. Die subjektive Perspektive der Fotografin ist dabei stets in den Bildern präsent. Sie sind das Resultat einer von ihr initiierten Beziehung oder Konfrontation.
Für die Aufnahmen der Serie „Rua Direita“ (1970) setzte sich Andujar auf die gleichnamige belebte Straße in São Paulo und fotografierte die Passanten aus einer starken Untersicht. Was im Bild nahezu inszeniert wirkt, ist die spontane Reaktion auf die unerwartete Begegnung mit der Person der Fotografin, die in den erschrockenen, distanzierten, neugierigen oder verwunderten Gesichtern sichtbar ist. In der Serie „Através do Fusca“ hingegen verkörpern die Fenster eines VW Käfers, aus dem die Künstlerin 1976 eine Reise von São Paulo ins Amazonasgebiet fotografierte, die für ihr Schaffen charakteristische Einschreibung ihrer eigenen Position in die Bilder.
Die Präsentation einer Auswahl von Werkreihen auf den von der italienisch-brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi entworfenen „Cavaletes“ (dt. Staffeleien) unterstreicht den dialogischen Charakter von Andujars Fotografien. Auf den aus Betonkuben und Glasplatten gefertigten Displays erhalten die Fotografien den Status von „Quasi-Subjekten“, die den Betrachtern auf Augenhöhe begegnen. Bo Bardi entwarf die „Cavaletes“ erstmals 1968 für eine Ausstellung in dem von ihr erbauten MASP (Museu de Arte de São Paulo). Sie trat damit für eine Abkehr von traditionellen, westlichen Präsentationsformen von Kunst ein.
Kuratorin: Carolin Köchling, in Zusammenarbeit mit Peter Gorschlüter
Projektentwicklung: Dr. Paula Macedo Weiß
Mehr unter http://mmk-frankfurt.de