Zauberbrunnen – Ein Märchen aus der zentralasiatischen Region.

Es war einmal ein Prinz aus Jemen, der ritt in den Wald auf die Jagd. Und
wie er in den Wald kam, erblickte er einen Ziegenbock, ein prachtvolles
Tier, mit einem weißen, dichten Zottelfell. Seine Jagdlust erwachte und er
setzte dem Tier hinterher. Er verfolgte es über die Steppe, durch Sümpfe,
über Geröll, in die Wüste – und es war seltsam mit diesem Tier.
Manchmal schien es ganz nah zu sein, lugte durch ein Gebüsch, dann
wieder sah er es weit entfernt auf einer Hügelkette stehen. Er bemerkte
nicht, dass er im Laufe der Jagd sein ganzes Gefolge verloren hatte.
Immer weiter hetzte er das Tier. Er bemerkte auch nicht, dass er in einen
Zauberwald geriet, ein Wald mit Wundern auf Schritt und Tritt. Die
bemerkte er auch nicht. Er ritt weiter und geriet an eine tiefe Grube, ein
Brunnenloch. Er saß ab, näherte sich vorsichtig dem Rand des Erdloches
und schaute hinab. Da konnte er nichts erkennen. Er nahm einen Stein
und warf ihn in den Brunnen hinunter. Lange geschah nichts, doch dann
erscholl von unten eine Stimme.
„Wer wagt es, uns zu stören? Antworte!“
So schnell fiel dem Prinz nichts ein. Da sprach die Stimme weiter:
„Wenn Du ein Mann bist, so werde zur Frau, wenn du eine Frau bist, so
werde zum Mann!“
Und was meinst Du wohl? Ehe unser Prinz sich versah, begannen sich
seine Brüste zu wölben. Plötzlich ist er in ein purpurotes Gewand
gekleidet, seine Lippen so rot, seine Augen wurden dunkel wie die Nacht,
noch dunkler seine Brauen und Wimpern. Der Prinz hatte sich in eine
Prinzessin verwandelt. Zufällig ritt zur selben Zeit ein anderer Prinz
ebenfalls durch den Zauberwald. Der erblickte die Schöne, packte sie,
entführte sie, nahm sie zu sich auf sein Pferd, führte sie heim in seinen
Palast. Er machte sie zu seiner Frau. Zwölf Jahre lebten die beiden
miteinander und der Prinz war sehr glücklich mit seiner Frau. Doch als
das dreizehnte Jahr anbrach, hielt es seine Frau nicht länger aus und sagte
eines Tages zu ihm:
„Was bist du doch für ein herzloser Mensch! Dich kümmert es gar nicht,
wie schwer mir das Herz ist. Zwölf Jahre sind es nun her, daß ich mein
Elternhaus nicht mehr gesehen habe, ich sehne, ich härme mich ab nach
meiner Mutter und meinem Vater!“
Der Prinz stritt nicht mit seiner Frau. Nach kurzen Vorbereitungen
machten sie sich auf den Weg, auf die weite Reise.
Erinnerst du Dich, mein Freund, noch an die tiefe Grube? Ebendorthin
kam der Prinz mit seiner Frau. Jeder warf einen Stein hinein. Und
plötzlich ertönte aus der Tiefe eine Stimme:
„Wer wagt es, uns zu stören, antworte!“ So schnell fiel dem Prinz nichts
ein, da sprach die Stimme weiter:
„Wenn du ein Mann bist, werde zur Frau; bist du eine Frau, so werde zum
Mann !“
Und was meinst Du wohl? Sogleich wurde der Mann aus dem Jemen
wieder ein Mann, während sich der andere Prinz in eine bildschöne Frau
verwandelte. Da zögerte unser Prinz nicht lange, er packte die Schöne,
schwang sich mit ihr auf sein Pferd und ritt mit ihr nach Hause. Zwölf
Jahre zogen ins Land. Als nun das dreizehnte Jahr anbrach, wandte sich
der Prinz an seine Frau und sprach:
„Jetzt habe ich mein Versprechen gebüßt. Komm mit, ich bringe dich
heim.“
Sie rüsteten zwei Pferde zur Reise und machten sich auf den Weg. Sie
gerieten auch in den Zauberwald.
Weißt Du noch von dem Zauberwald – und den Wundern auf Schritt und
Tritt? Da ist der Brunnen. Die beiden springen vom Pferd. Sie nähern sich
vorsichtig dem Brunnenrand, das heißt, der Prinz hielt sich ein wenig
Abseits. Sie wirft einen Stein hinab und bekommt ihre männliche Gestalt
zurück.
Ja, und dann ritten sie beide voneinander fort.
Der eine nach hier, der andere nach dort.
Sie leben glücklich, sagt man.
Jeder an seinem eigenen Ort.
Enteile Habgier, fort mit Neid und Haß und Eifersucht
und gebe Raum für Freiheit, Liebe, Glück.

Märchen aus Afghanistan
Neu erzählt von Jörn-Uwe Wulf

Abonniere unseren Newsletter