Die deutsche Autorin Felicitas Hoppe, mit zahlreichen Preisen (u.a. dem Georg-Büchner-Preis) ausgestattet, zählt zu den wichtigsten Erzählerinnen der deutschsprachigen Literatur. Bei der künstlerischen Einweihung des neu renovierten Grazer Minoritensaals mit dem Titel „neu, ATEM, neu“ liest sie aus ihrem, für diesen Anlass vom KULTUM in Graz in Auftrag gegebenen Text „Lieb Nachtigall, wach auf“: Sie verwebt dabei ihre Erinnerung als ein asthmatisches Vorschulkind ein Märchen von Hans Christian Andersen, im dem der Gesang der Nachtigall den Tod zum Gärtner macht, mit ihrem flötenspielenden Vater während ihrer kindlichen Krankheit an ihrem Geburtstag zwei Tage vor Weihnachten zusammen und flechtet dabei das pfingstliche Atmen und sein Feuer, die Vertreibung des Todes durch den Gesang der Nachtigall im Märchen und das Weihnachtslied von „Lieb Nachtigall, wach auf“ ein.
Felicitas Hoppe holt die schönsten und gleichzeitig auch schwersten Stellen der Bibel zum Geist, zur Sintflut und zum Frieden herbei und lässt diese an die biografische Erinnerung als kleines Asthma-Mädchen sowohl klingen als auch zweifelnd befragen: „Wie oft bin ich am Straßenrand sitzengeblieben, um mich zum ersten Mal ernsthaft zu fragen, ob mein Schöpfer es wirklich gut mit mir meint. Denn damals befand ich mich noch in dem festen Glauben, dass Gott nicht geizig, sondern großzügig sei. Wozu hatte er mir eine Stimme gegeben, wenn er sie nicht mit dem nötigen Atem versorgte?“ Schließlich empfand sie Gottes Schöpfung als ungebrochen schön, sang ihr „jeden Sonntag seine schönsten geistlichsten Lieder“, erlebte „Pfingsten“ als ihr „Lieblingsfest, weil der Geist Herr der Luft und sämtlicher Winde ist“ und weil „er die Feuerzunge erfand, die uns befähigt, in sämtlichen Sprachen zu sprechen […], weil er mit seinem Atem ein ganzes All erfüllt, von dem ich bis heute nichts weiß […] Und weil er in ständig wechselnden Gewändern von Sturm und Feuer und Flut bis heute ein Großmeister des Naturschauspiels ist“.
Märchen, Gesang, Bibel – das sind für Hoppe aber keine lyrischen Erbauungen: „Doch wehe dem, der Gottes Psalmen [oder das Märchen von H.C. Andersen] mit häuslicher Lyrik verwechselt …“ kommt mehrmals im Text und Hoppe erinnert auch daran „wie gern der Geist mit dem Feuer spielt und dass alles, was er mit Atem versorgt, so verheißungsvoll wie vernichtend zugleich ist“. So setzt denn der Text auch mit Noahs Sintflut neu ein, um eine zauberhafte Transformation vom Raben hin zur Taube zu entwickeln, ja zur Nachtigall im Märchen, zur Vertreibung des Todes auf der Brust des Kaisers. Um dann einen Bogen hin auf das kindliche Weihnachten hin zu schlagen, zum Lied „Lieb Nachtigall, wach auf! Wach auf, du schönes Vögelein auf deinem grünen Zweigelein, wach hurtig auf, wach auf! Dem Kindelein auserkoren, heut geboren, halb erfroren, sing, sing, sing sind, dem zarten Jesulein!“ Als ihr Vater diese Melodie auf der Blockflöte spielte, war sie als Kind schwer krank – es war ein Appell, doch liegen zu bleiben, sich auszuruhen. Doch ihre Lieblingsstelle der Bibel war das „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Denn sie ist „bis heute verliebt in jenes bewegliche Bett, für das man ein ganzes Dach abdecken musste, um es zu Jesus herunterzulassen, damit der asthmatische Vogel endlich zu fliegen beginnt.“ Doch Hoppe bleibt Realistin, was die Kirche betrifft: „Was allerdings seine Jünger betrifft, die klaustrophobischen Hüter einer befreienden Botschaft, so sitzen sie immer noch unter dem Dach eines Hauses, das sich vor Feuer, Sintflut und Starkregen fürchtet.“
Die Lesung von Felicitas Hoppe im KULTUM in Graz fand zur künstlerischen Einweihung des neuen Minoritensaals am 12. November 2021 bei „neu, ATEM, neu“ statt. Das KULTUM vergab 2021 zu „ATEM“ Schreibaufträge an Felicitas Hoppe, Margret Kreidl, Christian Lehnert und Arnold Stadler. Kamera, Ton: Elias Rauchenberger; Schnitt: Johannes Rauchenberger
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