Wie spiegeln sich also Zeithorizonte und Lokalitäten – damals wie heute? Und wie verbinden sich die einst von den Kolonialmächten künstlich gezogenen territorialen Grenzen und die nachfolgenden Weltkriege mit den Krisen der Gegenwart? Die ideologische und politische Desillusionierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die den Nährboden für Faschismus, Kommunismus und unzählige Konflikte legten, hallen weiterhin nach. Die Ausstellung Sea and Fog folgt diesen Verflechtungen und sucht nach Antworten, Schutz und Trost in den Werken der gezeigten Künstler*innen und in der Sprache Etel Adnans.
Ouassila Arras im Gespräch mit Sandeep Sodhi.
Für Sea and Fog hat die Künstlerin Ouassila Arras eine Mauer in die Kunsthalle gebaut. Das Werk mit dem Titel „Déplacement“ beleuchtet die Geschichte von Migration und menschengemachten Grenzen sowie die emotionalen Spuren, die das Verlassen eines Ortes und das Ankommen an einem anderen Ort hinter-lassen. Das ortsspezifische räumliche Denken und das Errichten einer Mauer, die mehrfach versetzt wird, stehen hier als Metapher für die Resilienz und Überwindung von Hindernissen, denen Menschen mit Migrationsgeschichte fortlaufend ausgesetzt sind. Inspiriert von den Mauern, die sie in ihrer Heimat Algerien gesehen hat – unvollendete Strukturen, die radikale Trennungen markieren – errichtete Arras diese mit Henna überzogene Grenze, in der sie Elemente aus ihrer Familiengeschichte vereint und die gleichzeitig ein Ritual der Katharsis ist.
Mohammad Salemy im Gespräch mit Çağla Ilk.
Der Film des Künstlers Mohammad Salemy spielt im Hafen von Beirut. Zu sehen sind Männer, die von einem Container zum nächsten gehen. Die unheimliche Leere und die Masse an Containern vermitteln das Gefühl, dass etwas bevorsteht. Die Protagonist*innen sind zufällig hier, um einen Raubüberfall zu planen. Obwohl der Hafen kein abgelegener Ort ist und streng von der Zollbehörde überwacht wird, stellt sich im Verlauf des Films heraus, dass dies nur Schein ist. Mit seinem Werk zielt Salemy auf die Handlungen ab, die sich im Verborgenen abspielen. Er generiert eine fiktionale Erzählung und vermischt Realität mit abergläubischen (er selbst spricht von „hyper-abergläubisch“) Themen, die sich um den vermeintlichen Schmuggel von Bruegels verlorener Originalzeichnung der beiden Versionen des Turmbaus zu Babel, die normalerweise in Wien und Rotterdam aufbewahrt werden, ranken.
Sabelo Mlangeni im Gespräch mit Misal Adnan Yıldız.
Auch Sabelo Mlangeni arbeitet in seiner Werkserie „NGIYOBONA PHAMBILI“ (2023) (“Danke im Voraus“ in den Sprachen Zulu und Xhosa) mit dem Medium der Fotografie. Im Gegensatz zu Fusinatos Archiv widersprüchlich anmutender Bilder untersucht Mlangeni über seine Werke die vergessenen Geschichten der südafrikanischen Soldat*innen, die während des Ersten Weltkriegs an der Küste der Normandie für die Kolonialmacht Großbritannien kämpften. Mlangeni öffnet so Räume der Trauer und verleiht den verlorenen Stimmen aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Gehör.
Nikola Bojić und Damir Gamulin im Gespräch mit Çağla Ilk
Am 10. März 2022 ist in der Nähe von einem Studentenwohnheim in Zagreb eine russische Rakete abgestürzt. Glücklicherweise gab es keine Verletzten. Der Absturz ist aber ein Rätsel: Die Rakete blieb zum Schluss unentdeckt. Die Installation „The Fall“ untersucht die Spannung zwischen Stille und großer Lautstärke. Die Flugbahndaten der Rakete wurden in eine Tonspur umgewandelt. Diese Tonspur ist im Boden des Direktionszimmers der Kunsthalle Baden-Baden integriert.
Erinç Seymen im Gespräch mit Misal Adnan Yıldız.
Die Serien Gods and Disasters I-II (2022-2023)des aus Istanbul stammenden Künstlers Erinç Seymen, der sich seit langem im queeren Aktivismus engagiert, bieten kritische Perspektiven für das Verständnis komplexer Gesellschaftsschichten innerhalb der zeitgenössischen Bildproduktion über Zerstörung, Gewalt und Ungerechtigkeit. Seymen greift dabei auf die Illustrationen des Niederländers Pieter van der Aa aus dem 18. Jahrhundert zurück, der sein Leben dem Buchdruck und dem Verlagswesen gewidmet hat und fast dreitausend Atlanten und Karten hinterließ. In Seymens Stadtsilhouetten stechen sofort die Proportionen der proletarischen Arbeiter*innenfiguren hervor,die ein starkes Klassenbewusstsein verkörpern und an Kompositionen der jüngeren Filmgeschichte erinnern. Seymen nimmt Bezug auf die Verbreitung mehrsprachiger Bilder im Internetund kombiniert monströse imaginäre Motive,die Elemente der Populärkultur aufgreifen: Elm Street, Donnie Darko, Sesamstraße oder das Maskottchen von McDonald‘s.
Die Gruppenausstellung Sea and Fog, die vom gleichnamigen Buch der Künstlerin und Dichterin Etel Adnan (1925-2021) inspiriert wurde, möchte durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Weltkriege und deren Auswirkungen auf die Gegenwart einen Raum für die vielschichtigen Wahrnehmungen der existenziellen Herausforderungen unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schaffen.
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