Labor #4: Das bedrohte Überleben – menschliche Selbstbestimmung

Das bedrohte Überleben – menschliche Selbstbestimmung Digitaler Probenbesuch & Gespräch mit Florentina Holzinger und Eva von Redecker HINWEIS: Während der Veranstaltung werden Videoclips mit Probenausschnitten gezeigt, in denen nackte weibliche Körper zu sehen sind. Florentina Holzinger bekommt im Labor #4 digitalen Probenbesuch von Eva von Redecker. Die Choreografin und Martial Arts Künstlerin Florentina Holzinger und die Philosophin Eva von Redecker sprechen über die Erfahrungen des gefährdeten Lebens und die Präsenz des Todes, die durch die Pandemie buchstäblich virulenter geworden sind. Während bislang der Tod hauptsächlich als individuelles Ereignis in seinem Verhältnis zum (eigenen) Leben zur Debatte stand, ändert sich dies mit dem Aufkommen zweier existenzbedrohender überindividueller Phänomene, der Pandemie und der Klimakrise. Mit beiden Krisen kommt eine neue Dimension hinzu: das Überleben der Spezies. Holzinger und von Redecker verbindet in ihren Arbeiten die Frage, wie aus der krisenhaften Erfahrung des bedrohten Überlebens eine Kraft erwachsen kann, eine lebenswerte Zukunft zu imaginieren und politisch zu gestalten. Das Tanzstück „A Divine Comedy“, an dem Holzinger derzeit für die Ruhrtriennale 2021 probt, rückt die Erfahrung der Verwundbarkeit ins Zentrum. Holzingers Arbeiten beginnen meist dort, wo andere aus Angst, Verdrängungswünschen oder Ekel vor der Kreatürlichkeit des Körpers abbrechen. In ihren Performances erfahren Körper Gewalt und leben diese aus. „Körper mit dem beständigen Potential zu sterben” (Herbert Blau) interessieren Florentina Holzinger – weil sie in deren Kollektiv die Erfahrung von Kraft und Lebenslust sucht. In ständiger Referenz auf die Geschichte des Balletttanzes sucht sie für sich, ihr Ensemble und die Zuschauerinnen nach der Erfahrung des Über-Menschlichen. Sie will, so beschreibt sie es, „der gesellschaftlichen Bewegungslosigkeit und Starre, die oft durch Furcht oder Panik hervorgerufen wird, entgegenwirken“. Eva von Redecker widerum hat mit ihrem Buch „Revolution für das Leben“ eine Theorie neuer Protestformen entworfen, in deren Zentrum die Sorge um das Überleben der Menschen und des Planeten steht. Mit dem digitalen Probenbesuch will die Philosophin nicht nur Einblicke in die Erarbeitung von „A Divine Comedy“ gewinnen, sondern mit Holzinger vor allem über Lebenslust in Zeiten kollektiver Depression sprechen. Begrüßung: Jeanne Bindernagel (Kulturstiftung des Bundes)

Labor #3: „Truthifiction“ – Wie umgehen mit umkämpften Wahrheiten?

In Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung.

Der Theaterregisseur und Videokünstler Arne Vogelgesang eröffnet die dritte Ausgabe unserer Labore des Zusammenlebens mit der Premiere seiner 30minütigen Lecture Performance „Truthifiction“. In der Krise, so beobachtet Vogelgesang, hat die Proklamation von Wahrheit Konjunktur. Wahrheit verspricht die Wiederherstellung einer verloren gegangenen Sicherheit. Dieses trügerische Versprechen verschafft in der gegenwärtigen Coronakrise politischen Strömungen und Bewegungen Zulauf, die auf Verschwörungsmythen aufbauen. Deren bisweilen radikale Zuspitzungen im Internet bearbeitet der Theatermacher seit über zehn Jahren. Mit „Truthifiction“ widmet er sich nun u. a. den so genannten „Truthern“: Menschen, die eine geheime Wahrheit hinter den durch Medien und Politik verbreiteten Informationen zu erkennen glauben, und die es sich zur Aufgabe machen, die Öffentlichkeit über „die Wahrheit” aufzuklären. Auf seine Performance reagiert im anschließenden Gespräch die Literaturwissenschaftlerin und Baseler Professorin Nicola Gess, Autorin des Buchs „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“ (Matthes & Seitz 2021). Darin geht sie der Frage nach, warum eine durch Fakten überzeugende, wirksame mediale Gegenreaktion auf Verschwörungserzählungen oft nicht gelingt. Anhand von Vogelgesangs Beispielen aus den sozialen Medien wird Nicola Gess über ihr Konzept eines „Fiktionscheck“ sprechen, einer neu zu entwickelnden Medienkompetenz für das 21. Jahrhundert, die über den „Faktencheck“ hinaus geht. Gess ist überzeugt, dass moralische Empörung über Fake News und Co. den Blick auf ein viel größeres Problem versperrt: Als demokratische Gesellschaften haben wir Jahrzehnte lang zu wenig in denkbare alternative Zukunftsentwürfe investiert. Die bewusste Streuung alternativer Fakten versteht sie als eine zynische Reaktion hierauf. Gemeinsam begeben sich Arne Vogelgesang und Nicola Gess in die Rabbit holes obskurer und unglaublicher Internetfunde. Die Moderation übernimmt Jeanne Bindernagel (Kulturstiftung des Bundes).

Labor #2: Ostdeutsche Identität(en) – Neue Zugänge zur Erinnerung an die DDR Ein Gespräch zwischen Olivia Wenzel und Steffen Mau

Trotz der biographischen Verschiedenheiten der Autoren und der Unterschiedlichkeit ihrer Zugangsformen weisen Olivia Wenzels Roman „1000 Serpentinen Angst“ und Steffen Maus Studie „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ in ihrem Erinnern an die DDR der 1980er Jahre einige Ähnlichkeiten auf. Im Gespräch über individuelle und kollektive Erfahrungen unternehmen beide den Versuch, die DDR entlang innerdeutscher Entwicklungs- und Konfliktlinien von heute aus neu zu erinnern.

Die 1985 bei Weimar geborene Dramatikerin und Musikerin Olivia Wenzel beschreibt in ihrem Buch die Erfahrung von Rassismus, der sie und ihre Familie zu DDR-Zeiten und danach ausgesetzt war und erkennt darin, dass die Sprachpolitik der DDR keine Worte für die Erfahrung des Herausfallens aus dem Kollektiv hatte. Der 17 Jahre ältere, aus Rostock stammende Soziologe und Leibniz-Preisträger Steffen Mau erzählt in seinem Buch von seiner Kindheit und Jugend im Rostocker DDR-Modellbezirk Lütten-Klein: von der von diesem Stadtviertel ausgehenden Hoffnung auf die Modernität eines Staates, der gleichwertige Lebensverhältnisse für seine Bürger ermöglicht; und von den politischen Verordnungen und Repressionen, unter denen sich diese Hoffnung in den Zwang zur Gleichförmigkeit verkehrte. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Empathie von Mau und der Wut von Wenzel. Steffen Mau bemüht sich, die Entwicklung einer von ihm so umrissenen Ost-Mentalität nachzuvollziehen. Deren Wertschätzung speist sich vor allem daraus, dass er die Idee der gesellschaftlichen Gleichheit als emanzipatorische Errungenschaft würdigt. In Olivia Wenzels Roman erleben wir die Wut der Protagonistin darüber, dass ihr in der DDR die Sprache für den Rassismus genommen wurde und auch in der heutigen Erinnerungskultur nicht wiedergegeben wird – außer in einem Ost-Bashing, das den Osten als rassistisch markiert und sie darüber erneut in dieser Facette ihrer Identität diskriminiert.

Über Erkenntnisse und Versäumnisse im Umgang mit der Erinnerung an die DDR nach 1989 möchten sich Wenzel und Mau austauschen und dabei auch über die Notwendigkeit neuer Erzählformen des zeitgeschichtlichen Erinnerns in künstlerischen und wissenschaftlichen Medien sprechen. Moderation: Jeanne Bindernagel (Kulturstiftung des Bundes)

Labor #1: Erinnerungen an Gewalt – Zur Zukunft von Gedenkkultur

Erinnerungen an Gewalt – Zur Zukunft von Gedenkkultur im globalen Kontext Ein Gespräch zwischen dem Historiker und Literaturwissenschaftler Michael Rothberg und der Autorin und Publizistin Carolin Emcke.

Die deutsche und europäische Gedenkkultur an die Shoah wird in Zukunft nur dann lebendig bleiben, wenn sie den solidarischen Schulterschluss mit anderen Erinnerungen an die Gewalt im 20. Jahrhunderts sucht, so die Prognose des Historikers und Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg in seiner in den USA intensiv rezipierten Studie „Multidirectional memory“, die in Kürze in deutscher Übersetzung erscheint. Rothberg zeichnet darin nach, warum ein einst emanzipatorisches und notwendiges Anerkennen einzigartiger deutscher Schuld in der Shoah nicht länger eine gelebte Verbindung mit der Vergangenheit garantiere. Den Blick für die Verstrickungen (post)kolonialer und faschistischer Verbrechen zu öffnen, skizziert Rothberg in dieser herausfordernden Situation als Chance: Gedenken sei kein „Nullsummenspiel“ oder Konkurrenzkampf um Opfertum, sondern gelebte Empathie. Doch liegt in einer solchen Sichtweise auf die deutsche Geschichte nicht auch eine Gefahr historischer Relativierung, die einem gegenwärtig erstarkenden Antisemitismus in die Hände spielt? Könnte auch eine Abstumpfung gegenüber konkretem Leid die Folge sein?

Labore des Zusammenlebens – Eine Veranstaltungsreihe der Kulturstiftung des Bundes

Mehr unter: www.kulturstiftung-des-bundes.de/labore

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