Carol Rama: Rebellin der Moderne – Die erste große Retrospektive in der Schweiz
Sexualität, Wahnsinn, Krankheit und Tod – diese fundamentalen Themen prägten das Werk der italienischen Künstlerin Carol Rama (1918–2015). Trotz ihres herausragenden Beitrags zur Avantgarde-Kunst wurde sie erst spät gewürdigt. Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie 2003 mit dem Goldenen Löwen der 50. Biennale von Venedig. Nun widmet das Kunstmuseum Bern der Pionierin feministischer Kunst vom 7. März bis 13. Juli 2025 die erste umfassende Retrospektive in der Schweiz. Die Ausstellung „Carol Rama. Rebellin der Moderne“ präsentiert mit rund 110 Werken aus sieben Jahrzehnten die Vielfalt ihres radikalen und experimentierfreudigen Schaffens. Unabhängig von künstlerischen Strömungen schuf die Autodidaktin ein provokantes und zutiefst persönliches Werk, das sich gängigen Kategorien entzieht.
Carol Rama: Eine Biografie zwischen Rebellion und Tragik
Geboren 1918 in Turin, wuchs Carol Rama in einem bürgerlichen Umfeld auf, das von familiären Tragödien erschüttert wurde. Ihre Eltern wurden in psychiatrische Kliniken eingewiesen, und nach dem Bankrott seines Unternehmens beging ihr Vater 1942 mutmaßlich Suizid. Diese Erfahrungen prägten Ramas künstlerische Haltung. In ihren Werken setzte sie sich intensiv mit gesellschaftlichen Zwängen, Geschlechterrollen und der weiblichen Sexualität auseinander. Ihr Ziel: Kunst als Heilung und Befreiung.
Die künstlerische Entwicklung in sechs Kapiteln
Die Ausstellung gliedert sich in sechs Phasen, die die stetige Erneuerung ihres Stils veranschaulichen:
1. Appassionata (1936–1946): Erotik als Provokation
Mit ihrer Serie „Appassionata“ stellte sich Rama gegen das patriarchale Kunstverständnis ihrer Zeit. Die erotischen Aquarelle zeigen entblößte, verletzliche, aber zugleich autonome Frauenkörper. Als ihre erste Einzelausstellung 1945 in Turin aus Zensurgründen verboten wurde, distanzierte sich Rama endgültig von der konservativen Gesellschaft und ebnete den Weg für feministische Kunst.
2. Anti-Porträts (1930er–1940er): Der Mensch als Form und Fragment
Parallel zu ihren Aquarellen entstanden abstrakte Ölgemälde, in denen Rama das klassische Porträt auflöste. Die flächigen, körperlosen Figuren verschmelzen mit surrealen Elementen und spiegeln ihre frühe künstlerische Radikalität wider.
3. Movimento Arte Concreta (1940er–1950er): Abstraktion als Befreiung
Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss sich Rama der Gruppe Movimento Arte Concreta an und entwickelte eine klare, geometrische Bildsprache. Ihr Werk entfernte sich zunehmend von gegenständlichen Darstellungen und öffnete sich experimentellen Medien.
4. Bricolage (1960er): Materialexperimente als Protest
Mit der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre begann Rama, Alltagsobjekte in ihre Kunst zu integrieren. Sie verwendete Metallsplitter, Puppenaugen und Farbtuben – eine Technik, die von Edoardo Sanguineti als „Bricolage“ bezeichnet wurde. Ihre Arbeiten reflektieren Konsumkritik und eine Ablehnung traditioneller Kunstnormen.
5. Gomme (1970er): Gummi als künstlerisches Material
In den 1970er-Jahren entstanden die „Gomme“-Werke, in denen Rama aufgeschnittene Fahrrad- und Autoreifenschläuche auf Leinwand montierte. In der von Fiat geprägten Industriestadt Turin griff sie auf dieses Material zurück und schuf Werke, die zugleich minimalistisch und intensiv körperlich wirken.
6. Späte Figuration (1980er–2000er): Mythologie und persönliche Symbolik
In den 1980er-Jahren kehrte Rama zur figürlichen Malerei zurück. Ihre Werke wurden von der Transavanguardia beeinflusst, einer italienischen Bewegung, die klassische Motive und traditionelle Medien neu interpretierte. Die Künstlerin arbeitete mit mythologischen Themen und surrealen Elementen und schuf eine düstere, poetische Bildsprache.
Späte Anerkennung für eine radikale Künstlerin
Obwohl Carol Rama jahrzehntelang künstlerisch aktiv war, erhielt sie erst spät die verdiente Anerkennung. Ein entscheidender Wendepunkt war 1980 ihre Teilnahme an der bahnbrechenden Ausstellung „L’altra metà dell’avanguardia 1910–1940“ in Mailand, die sich der vergessenen weiblichen Avantgarde widmete. Ihr größter Erfolg folgte 2003 mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig – ein Meilenstein, den sie mit ironischer Resignation kommentierte:
„Das macht mich natürlich stocksauer, denn wenn ich wirklich so gut bin, verstehe ich nicht, warum ich so lange hungern musste – nur weil ich eine Frau bin.“
Die Retrospektive in Bern bietet nun die Möglichkeit, Carol Ramas Werk in seiner ganzen Radikalität und Vielschichtigkeit zu entdecken. Ihre Kunst bleibt ein Zeugnis für Widerstand, Leidenschaft und eine unermüdliche Suche nach künstlerischer Freiheit.
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