Wer ist das „wahre Israel“? – Diese theologische und politische Frage steht im Zentrum eines faszinierenden Vortrags von Holger Zellentin, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Tübingen. Unter dem Titel „Die Auserwähltheit Israels zur Zeit der islamischen Zeitenwende: jüdische, christliche und koranische Perspektiven“ beleuchtet Zellentin die vielschichtige Debatte um Identität und Deutungshoheit in Antike und Spätantike.
Israel zwischen Bibel, Kirche und Koran
Während die Vorstellung einer durchgehenden Linie vom biblischen Volk Israel zum heutigen Judentum in der Moderne weitgehend als selbstverständlich gilt, war dies in der Antike keineswegs der Fall. Vielmehr wurde die Zugehörigkeit zu „Israel“ von verschiedenen religiösen Gruppen beansprucht – mit weitreichenden theologischen und politischen Implikationen:
- Christliche Gruppen sahen sich als das „wahre“ oder „neue Israel“ – darunter die Byzantiner, äthiopischen Christen oder syrische Kirchen.
- Jüdische Texte wie Toledot Yeshu oder Midrasch Tanchuma reagierten auf diesen Anspruch mit komplexen Deutungen der göttlichen Auserwählung und konkurrierenden Selbstbildern.
- Der Koran betrachtet sowohl Juden als auch Christen als Fraktionen des historischen Israels – und kritisiert beide für das Verlassen des „geraden Weges“.
Zellentin zeigt, wie eng religiöse Auserwähltheit und politische Machtfragen miteinander verwoben waren – und sind. Der Streit um Israel war nie nur theologisch – sondern stets auch ein Spiegel kultureller und gesellschaftlicher Verschiebungen.
Zum Referenten
Holger Zellentin ist ein international renommierter Religionshistoriker mit Schwerpunkt auf der Spätantike. Seine Forschung verknüpft literaturkritische, rechtsgeschichtliche und kulturhistorische Ansätze. Er ist Vorsitzender des International Qur’anic Studies Association (IQSA) und war Vorstandsmitglied der British Association for Jewish Studies (BAJS). Seit 2019 lehrt er in Tübingen.
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